Leseprobe

Auftakt

Tag null - Anreise am sechsten März 2017 

   Ich wandere, meinen Rucksack auf dem Rücken, vom Flughafen Pamplona einen Kilometer zur Bushaltestelle. Es ist schon dunkel an diesem Sonntag. Es ist der erste Kilometer von über achthundert nach Santiago und Finisterre, die ich mir vorgenommen habe. Sonst habe ich nicht viel geplant, als Ausgleich für die letzten zwanzig Jahre, in denen ich dauernd zu viel planen musste: Kalender voller Termine um Kinder, Haus, Ehe, Scheidung, Beruf und Pendeln. Kann ich das überhaupt noch, ohne Terminkalender nur tun was ich will? Ich möchte es erfahren.

   Der Bus kommt pünktlich, ein schöner Anfang. Die Fahrt nach Pamplona kostet nur eins zwanzig. Nach einem weiteren Fußmarsch erreiche ich das "Hostal Hemingway". Meine einzige Reservierung für diese Reise, aber um zehn Uhr nachts wollte ich nicht mehr auf Herbergssuche gehen. Das Gebäude wird gerade renoviert und durch eine Baustelle betreten, das Personal und die internationalen, jungen Traveller-Gäste, darunter viele Pilger, sind gut gelaunt und freundlich. Für einen Euro kommt eine Dose "San Miguel" Bier aus dem Automaten - das Leben ist schön. Die Übernachtung in einem eher vollen Schlafsaal mit Stockbetten fühlt sich dagegen etwas beängstigend an: Im Schlaf bin ich ungeschützt und den wildfremden Zimmergenossen völlig ausgeliefert. Und was, wenn ich bestohlen werde?

  Vor dem Einschlafen geht mir durch den Kopf, was mich zu den Strapazen dieser Reise motiviert. Ich könnte stattdessen ja auch Erholungsurlaub am Strand machen. Sicher, ich wandere gerne. Viele schöne Landschaften und Bauwerke warten am Weg auf mich, viele Begegnungen. Ich hoffe auf eine Reise zu mir selbst, auf Erkenntnisse über mich. Ich hoffe auf eine spirituelle Reise. Und ich "sammle" schon seit Langem Erlebnisse, Eindrücke, die auch nach Jahren und Jahrzehnten lebendig im Gedächtnis sind.

   Von einigen Pilgern werde ich hören, dass der "Camino", also der Jakobsweg, sie "gerufen" hat. Bei mir begann das mit der Pilgerreise meines ältesten Sohnes, der nach dem Abi 2015 zu Fuß von der Haustüre weg in mittelalterlicher Gewandung rund 3.500 Kilometer nach Jerusalem gepilgert ist - bis auf das Stück durch Syrien, das zu gefährlich war. Er hat über seine Fahrt gebloggt, ich habe die Einträge verfolgt, versucht, mich hinein zu versetzen und bin neugierig auf das Erlebnis Pilgerfahrt geworden. Und dann war ich vor zwei Jahren beruflich in Spanien, fuhr eine Bundesstraße entlang, sah das Schild "Camino de Santiago". Und ich sah zwei Pilger mit ihren Rucksäcken gemächlich auf einer Brücke über die Straße wandern, bevor ich den Lärm und Gestank unserer Zivilisation verbreitend, unter der Brücke durchfuhr. Ich fühlte spontan und intensiv: Die beiden Pilger erleben etwas Archaisches, das mir vorenthalten bleibt. Die tun das Richtige und ich das Falsche. Ich beneidete die beiden Pilger. Rund zehn Jahre nach Erscheinen des Buches von Hape Kerkeling, das ich natürlich auch gelesen habe, sollte der Hype etwas abgeflaut sein - also los!


Auf alten Spuren

Tag eins - von Pamplona 24 Kilometer nach Puente la Reina

    Aus dem Hostal geht es nach dem Frühstück erst einmal durch die Stadt Hemingways und der Stierhatz zur Stierkampfarena. Dann zur Kathedrale, wo ich meinen ersten Stempel in den Pilgerpass bekommen möchte. Die Kathedrale kostet Eintritt und öffnet heute erst um elf Uhr. Außer mir wartet noch eine Pilgerin auf Einlass. Wir kommen ins Gespräch und es stellt sich heraus, dass sie Herta heißt und aus Stefanskirchen kommt, gerade acht Kilometer von mir zu Hause entfernt. Schon seltsam. So sehen wir uns zusammen die Kathedrale an, kaufen Brot, spanischen "Jamon" (Schinken) und ich eine Wasserflasche. Wir gehen die ersten paar Kilometer gemeinsam weiter, reden über unsere Lebenssituation und unsere Motivation zur Pilgerfahrt und trennen uns nach den blühenden und duftenden Mandelbäumen auf dem Universitätscampus von Pamplona. Die Landschaft wirkt sonst noch winterlich farblos, aber ein wenig Frühling ist schon zu sehen.

   So suche ich also die Wegweiser, Jakobsmuscheln mit Richtungspfeil oder einfach gelbe Pfeile auf Wänden, Steinen, auf dem Boden. Wenn möglich, möchte ich heute vierundzwanzig Kilometer nach Puente la Reina gehen, der Brücke der Königin. Eine Standartetappe aus dem Reiseführer.

   Im Leben bin ich schon viel gewandert, aber nie mehr als vier Tage am Stück. Vierundzwanzig Kilometer hören sich nicht nach viel an, selbst mit Rucksack. Aber es nützt nichts, hier fünfzig Kilometer an einem Tag zu pilgern und am nächsten Tag wie zerstört zu sein. Oder, noch schlimmer, sich üble Blasen an den Füßen einzuhandeln. Oder, am schlimmsten, irgendwelche Muskeln, Sehnen oder Gelenke so zu ruinieren, dass die ganze Pilgerfahrt in Frage gestellt wird. Also will ich erst einmal kleine Brötchen backen und herausfinden, wie mein Körper damit klarkommt. Außerdem, so wird mir im Lauf der Reise klar, sind die Tagesetappen mit durchschnittlich dreihundert Höhenmetern auf und ab verbunden. Ich weiß vom Bergwandern, dass die Höhenmeter oft viel mehr über die Anforderungen einer Tour aussagen als die Entfernung. Ich möchte die Pilgerfahrt auch nicht zu einer Sportveranstaltung machen: Kürzere Tagesetappen lassen Zeit für Pausen, Einkäufe, Besichtigungen, Begegnungen.

   Ich begegne Pilgern, die ungeübt oder recht alt sind und nur zwölf bis fünfzehn Kilometer am Tag gehen. Warum nicht, wenn man die Zeit hat oder insgesamt eben statt achthundert nur vierhundert Kilometer pilgern will?

   Nach ungefähr zehn Kilometern treffe ich Andreas aus Dänemark, der sich gerade eine Auszeit von einer Woche nimmt. Er ist den Jakobsweg schon einmal gegangen und will diesmal nur einen Abschnitt pilgern. Gemeinsam meistern wir die 350 Höhenmeter des steilen Aufstiegs zum Alto del Perdón mit seinen Windkraftwerken und dem Pilgerdenkmal.

   Wir machen Brotzeit, obwohl uns der Wind fast die Plastiktüten aus den Händen reißt. Gut für die Windkraftwerke!

   Ich liebe Brot, Käse und harten Schinken (wie spanischen Jamon oder Südtiroler Speck) als Wanderproviant. Schon Reinhold Messner nahm Südtiroler Speck in den Himalaya mit. Weil Käse und Speck konzentrierte Energie bei wenig Gewicht bieten und auch bei warmem Klima ohne Kühlung tagelang haltbar sind. Wenn man beim Einkauf auf Qualität achtet lässt der Geschmack nichts zu wünschen übrig und Probleme mit der Verdauung sind ebenfalls nicht zu erwarten.

   Die in Pamplona gekaufte Wasserflasche steckt inzwischen am Rucksack, das Trinksystem verbindet sie mit einem Mundstück vorne. So brauche ich die Wasserflasche nicht in der Hand zu tragen und muss doch den Rucksack nicht abnehmen, um den Durst zu stellen - was bei faulen Menschen wie mir natürlich dazu führen würde, dass sie zu wenig trinken. Ich könnte auch einen kompletten Trinkschlauch in den Rucksack stecken, der ist aber teurer und es ist nicht einfach, einen Trinkschlauch fünf Wochen lang in einem halbwegs hygienischen Zustand zu halten. Den Tipp mit dem Trinksystem verdanke ich Michel, meinem Jüngsten, einem begeisterten Pfadfinder.

   Vom Pass sind es noch gute zehn Kilometer, meist abwärts durch schöne Natur, nach Puente la Reina. Dort treffen sich zwei alte Pilgerwege, der aragonesische und der navarresische Zweig des "Camino Francés" des wichtigsten Jakobsweges. Gegen achtzehn Uhr kommen wir an. Ein gemütliches, altes Haus wartet auf uns, die Pilgerherberge "Refugio Padres Reparadores". Mein Pilgerausweis empfängt seinen zweiten Stempel und für fünf Euro bekomme ich einen Platz in einem Stockbett im Schlafsaal. Die heiße Dusche ist eine Wohltat.

  Ich treffe Frank, einen australischen Militärgeistlichen kurz vor seiner Pensionierung, der die ganze Ausbildung seiner Kameraden bei den Special Forces absolviert hat, um mit den Männern auf Augenhöhe zu kommen. Er hat über fünfzig Fallschirmsprünge hinter sich und wandert viel in Tasmanien. Es ist sein zweiter Camino. Wir besuchen den Abendgottesdienst für Pilger in der "Iglesia del Crucifijo" oder Kruzifix-Kirche. Sie wird von den selben Padres Reparadores verwaltet, die auch unsere Pilgerherberge betreiben. Die Kirche gehörte zu einem Templerkloster aus dem XIII. / XIV. Jahrhundert, das romanische Portal stammt noch von der vorherigen Kapelle. Ein schweres, spätgotisches, Y-förmiges Kreuz hängt im Chor. Es soll von Pilgern aus dem Rheinland hierher getragen worden sein.

   Die mittelalterlichen Pilger flössen mir immer mehr Respekt ein: In primitiven Schuhen, barfuß oder in Sandalen unterwegs, statt in meinen modernen Wanderstiefeln. Mit Wollumhang statt meiner Goretex-Jacke. Unterwegs Geld verdienend oder auf Mildtätigkeit angewiesen - statt meiner Kreditkarten. Oft nicht wie ich freiwillig unterwegs, sondern von Geistlichen oder Richtern auf Wallfahrt geschickt. Seuchen oder einer Blutvergiftung ausgeliefert, ohne die Möglichkeiten unserer modernen Medizin. Von Räuberbanden bedroht. Für lange Zeit ohne Kontakt zu ihren Angehörigen - nichts mit Smartphone. Ohne warme Dusche nach einem anstrengenden Tag. Und mit der Aussicht auf den Rückmarsch nach Hause - statt meines Rückflugtickets aus Santiago. Manche Pilger waren ein oder zwei Jahre unterwegs und viele sind unterwegs gestorben. Es erscheint mir anmaßend, mich mit ihnen in eine Reihe zu stellen.

   Nur eine Handvoll der über zwanzig Pilger aus der Herberge wohnt dem Gottesdienst bei, der auf Spanisch fremd und doch gleichzeitig vertraut klingt. Zum Abschluss bekommen wir nach dem Pilgersegen ein kleines Kreuz geschenkt, das ich an meinem Rucksack befestige.

   Frank und ich gehen zum Abendessen in ein Lokal, das er noch vom letzten Mal kennt. Ein "Menu Peregrino", ein Pilgermenü mit drei Gängen, Brot und einer halben Flasche Wein, kostet zehn Euro. An Hunger fehlt es nach dem Wandern nicht.

   Ich spreche mit Frank über Religion. Ich behaupte, er sei Christ, weil seine Eltern Christen waren. Weil in der Bibel steht, man solle Vater und Mutter ehren. Weil seine Lehrer und Mitschüler Christen waren. Und komme dann zum Beispiel auf einen Moslem, nennen wir ihn Ali: Er ist Moslem, weil seine Eltern Moslems sind und der Koran Respekt vor den Eltern lehrt. Weil seine Freunde, Lehrer und Mitschüler Moslems sind. Wenn es, wie Frank und ich glauben, einen Gott gibt: Kann er Frank belohnen und Ali bestrafen, obwohl beide das Gleiche getan haben? Ein Gott, den wir Vater nennen dürfen? Sollte der nicht mehr Sinn für Gerechtigkeit besitzen? Frank nickt, aber legt den Finger an die Lippen. Wenn es so etwas wie ein Paradies gibt, kommen diejenigen hinein, die für ein Paradies zu gebrauchen sind. Nächstenliebe ist wichtiger als Dogmen. Der Dalai-Lama bemerkte sinngemäß zu diesem Thema: "Es gibt so viele unterschiedliche Religionen, weil es so viele unterschiedliche Menschen gibt."

   Dann ab ins Bett, Schlaf ist wichtig und um acht oder neun Uhr früh müssen die meisten Herbergen geräumt sein. Irgendjemand schnarcht meistens in einem Pilgerschlafsaal. Aber von zehn Uhr abends bis sieben Uhr früh lässt sich trotzdem genug Schlaf finden - und wenn man wirklich eine Nacht weniger gut und lange schläft, schläft man die nächste umso besser. Einige Freunde haben mich zuhause belächelt, als sie erfuhren, dass ich in Pilgerschlafsälen übernachten will. Viele von ihnen sind Bergwanderer und haben kein Problem mit Alpenvereinshütten. Wo liegt da bitte der Unterschied?

© Thomas Schätz 2018

"Ansichten eines Pilgers"